Neandertal – Claire Cameron

Folgen wir der Evolutionstheorie, so stammt der Homo sapiens, der moderne Mensch, also ich und Du, die wir zu den höheren Säugetieren zählen, vom Affen ab. Während sich der Homo sapiens in Afrika ausbreitete, entwickelte sich damals, im Pleistozän, vor mehr als 40.000 Jahren in Europa der anatomisch verwandte Neandertaler. Diese Vorfahren unterschieden sich von Menschenaffen insofern, dass sie nicht nur einfache Werkzeuge herstellten und sich mit rudimentären Sprachlauten verständigen konnten, sondern auch das Feuer beherrschten.

Die Ur- und Steinzeit war schon immer etwas Faszinierendes. Weit vor Filmen wie Steven Spielbergs Jurassic Park (1993) waren viele von Dinosauriern begeistert. Geschichten mit Neandertalern fand ich persönlich spätestens seit Jean-Jacques Annauds meisterhaftem Film Am Anfang war das Feuer (1981) mehr als beeindruckend.

Die Romanvorlage von J.H. Rosny aîné aus dem Jahr 1909 gilt als Klassiker des Genres. Zur modernen Pflichtlektüre auf diesem Gebiet sind die Romane von Jean M. Auel zu zählen. Ihr sechsbändiger Zyklus mit dem Titel »Die Kinder der Erde«, dessen erster Band Ayla und der Clan des Bären im Jahr 1980 erschienen ist, entwickelte sich rasch zum Weltbestseller. Und nicht nur, weil es auf den Romanseiten recht oft zu Geschlechtsverkehr und weiteren unsittlichen Aktionen unter Urmenschen kommt …

Dieses Subgenre ist eigentlich ausgereizt. Dennoch wurde mein Interesse geweckt, als ich erfuhr, dass es mit dem Roman Neandertal der kanadischen Autorin Claire Cameron neuen Lesestoff gibt. Und in der Tat, das Werk ist insofern interessant, weil es versucht, die Lebensumstände der Neandertaler möglichst originalgetreu wiederzugeben.

Erzählt wird die Geschichte von Mädchen und ihrer kleinen Sippe. Es geht ums Erwachsenwerden, was in der Frühzeit des Menschen natürlich etwas ganz anderes war als heute. Mädchen ist gerade geschlechtsreif geworden und muss sich nicht nur mit der Unbill der Natur herumschlagen, sondern auch ihren Platz im Leben finden. Als sie sich mit ihrem Bruder paart und die Mutter der Familie vermeiden will, dass inzestuöse Nachkommen entstehen, wird sie verstoßen und muss sich alleine durchschlagen, um Teil einer anderen Sippe zu werden.

Die Erlebnisse in der Welt vor 40.000 Jahren werden von Claire Cameron recht eindrücklich geschildert. Es geht durchaus brutal zu, wenn beispielsweise auf der Jagd ein Bisonkalb von seiner Mutterkuh getrennt und getötet werden soll. Oder wenn sich Mädchen mit Bären und Wölfen auseinandersetzen muss. Und obendrein feststellt, dass sie schwanger ist.

Aber da ist noch mehr. Zusätzlich zur gnadenlosen Geschichte von Mädchen erzählt Claire Cameron in einem zweiten Handlungsstrang von Rose Gale, einer Archäologin, die das Skelett von Mädchen in der heutigen Zeit entdeckt. Rose ist ebenfalls schwanger und fast alles dreht sich um diesen Zustand. Denn er bedroht Verlauf und Erfolg ihrer archäologischen Ausgrabung. Während die Handlung von Mädchen schon alleine durch ihr exotisches Setting und wohl dosiert eingesetzter Action lebt, und überzeugt, ist der Plot um Rose insgesamt eher mittelmäßig und latent langweilig ausgefallen. Die Charaktere, inklusive Ehemann, Arbeitskollegen und ehemalige Studienfreundin, sind sehr blass und die Dialoge wirken allesamt bemüht.

Der Verlag vermarktet den Roman mit dem Spruch »Zwei Frauen, die Jahrtausende voneinander trennen und die doch eine gemeinsame Geschichte haben« auf dem Titelbild. Im Gedächtnis hängen bleibt jedoch nur die Geschichte der Neandertalerin.

Aber diese kann auf ganzer Linie zu fesseln. Deshalb sei Neandertal allen empfohlen, die sich für die Frühzeit der Menschheit interessieren. Und okay, schwangere Archäologinnen dürften auch einen gewissen Lesespaß damit haben.


Die Daten:

Claire Cameron, Neandertal
Originaltitel: The Last Neanderthal (2017)
Deutsche Erstveröffentlichung
Verlag: btb
Übersetzung: Marie Rahn
Titelillustration: Gregg Kulick
Format: Taschenbuch
Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsdatum: 12. Oktober 2020
ISBN: 978-3-442-71949-5
Preis: € 11,00

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