»Da haut’s doch glatt die Miez vom Baum!« Oder vielmehr, die Cheshire Cat, in deutschen Landen eher bekannt als Grinsekatze. Und wo die Grinsekatze ist, ist auch Alice nicht weit. Also, ihr wisst schon: die Alice und ihr Wunderland.
Dieses Wunderland entstammt ursprünglich dem genialen Geist des britischen Schriftstellers Lewis Carroll, der während dem Viktorianischen Zeitalter zwei absolute Werke der Weltliteratur, die Kinderbücher Alice im Wunderland (1865) und Alice hinter den Spiegeln (1871), veröffentlichte, die bis heute immer wieder neu verlegt, verfilmt und verwurstet werden. Und natürlich auch neu interpretiert oder gar fortgesetzt. Das bietet sich bei diesem extravagant-phantasmagorischen Stoff förmlich an, gilt doch das Hauptwerk von Carroll über die Eigenschaft als »Kinderlektüre« hinaus auch als sogenannte Nonsense-Literatur. Die Protagonisten verhalten sich nämlich ziemlich gaga und höchst mysteriös. So entgegnet die Grinsekatze auf Alices Befürchtung, dass sie nicht unter Verrückte kommen möchte: »Oh, das kannst du wohl kaum verhindern. Wir sind hier nämlich alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.« Worauf Alice fragt: »Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin?« Und die Grinsekatze antwortet: »Wenn du es nicht wärest, stellte die Grinsekatze fest, dann wärest du nicht hier.«
Jedoch, das Wunderland von Christina Henry ist eine ganz gewaltige Spur düsterer als das von Lewis Carroll. Die in New York geborene 45-jährige Horror- und Fantasy-Autorin, die mit ihrem verschmitzten Gesichtsausdruck aussieht als könne sie keiner Fliege etwas zu Leide tun, hat es offenbar faustdick hinter den Menschenohren. Ihre Interpretation der Abenteuer von Alice ist, das kann man ohne Übertreibung sagen, nichts für schwache Nerven.
Christina Henry hat Alice ins Irrenhaus verfrachtet. Dort vegetiert die junge Frau schon seit einer ganzen Dekade. Warum sie dort gelandet ist, weiß sie nicht mehr. Sie hat vage Erinnerungen an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit. Möglicherweise hat ein Mann mit Kaninchenohren ihr etwas angetan. Sie hatte danach Blut zwischen den Beinen. Eventuell hat sie ihm ein Auge ausgestochen und konnte sich befreien. Doch keiner wollte ihre Geschichte glauben, stattdessen wurde sie weggesperrt. In der Zelle nebenan tobt ein verrückter Axtmörder namens Hatcher. Über die Jahre wurde er zur einzigen Bezugsperson, und als im Krankenhaus ein Feuer ausbricht, wird Hatcher zu Alices Weggefährte in der neugewonnenen Freiheit und zum Freund. Dem Ausbruch des Feuers folgt der aus dem Irrenhaus, hinein in die Welt der Alten Stadt, in der fiese Bösewichte wie der Zimmermann, der Grinser (im Original: Cheshire), die Raupe, das Walross und natürlich das Kaninchen das Sagen haben. Einer ist schlimmer als der andere. Und als ob das nicht alles schon krass genug wäre, werden Alice und Hatcher auch noch verfolgt von dem Jabberwock …
Finsternis im Wunderland ist der Auftakt einer Reihe von Büchern, die zwar kräftige Anleihen bei Carrolls Werken macht, aber durch den starken Horrordrall und die stringente Erzählweise der Autorin eigenartig frisch wirkt. Die Atmosphäre des Romans ist durchgehend so dunkel, dass man glaubt, man müsse die Vorhänge weiter zurückziehen und das Fenster aufmachen, um mehr Licht hereinzulassen. Und dass, selbst wenn die Vorhänge bereits zurückgezogen sind und das Fenster schon sperrangelweit auf steht.
Henrys Schreibstil ist trocken, direkt und schonungslos. Weil wir hier in einem modernen Horrormärchen sind, ist der Bodycount entsprechend hoch. Gewalt gegen Frauen scheint ein systemisches Merkmal dieser grausamen Welt zu sein, die Christina Henry erschaffen hat. Revanche und Vergeltung ebenso. So gerät Alice zum symbolischen weiblichen Opfer auf einem Rachefeldzug gegen die bizarrsten Vergewaltiger, die man sich ausdenken kann. Und sie wird flankiert vom durchgeknallten Hatcher, einer mustergültigen Ein-Mann-Armee, die alles platt macht, was in den Weg kommt. Aber auch er ist ein Opfer …
Als Leser fängt man, ähnlich wie Alice, bei nahezu Null an und setzt sich mit fortschreitender Lektüre sein eigenes Mosaik des Geschehens zusammen, parallel zur Rückkehr des Gedächtnisses von Alice und Hatcher. Wer etwas aushalten kann, an psychischer und physischer Gewalt, der wird das Buch nur ungern aus der Hand legen und erst zufrieden sein, wenn das Ende spürbar wird.
Christina Henrys Prosa, ansonsten gradlinig und aus einem Erzählstrang bestehend, lässt die Handlung kulminieren bis einem erwartbaren Showdown mit dem Kaninchen und dem Jabberwock. Dass diese finalen Sequenzen leider eher zum Antiklimax geraten, übersehen wir geflissentlich beim Ziehen des Fazits. Zu krass war die Geschichte bis dahin.
Aber wer es bis zur letzten Seite geschafft hat, wird sich schon mal den Herbst 2020 vormerken. Denn dann soll die Fortsetzung der Chroniken von Alice mit dem Titel Die Schwarze Königin erscheinen.
Christina Henry, Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland
Die Dunklen Chroniken Band 1
Originaltitel: Alice (2015)
Verlag: Penhaligon
Übersetzung: Sigrun Zühlke
Titelillustration: Melanie Korte
Format: Hardcover
Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsdatum: 16. März 2020
ISBN: 978-3-7645-3234-5
Preis: € 18,00